Rede-Kumlehn-auszug

Thomas Kumlehn
gehalten als Rede am 30.05.2021 zur Finissage der Ausstellung „Paragone“ von Astrid Weichelt und Kirstin Rabe in der Galerie 47, Birkenwerder

Auszug aus der Rede zu Paragone, Kirstin Rabe und Astrid Weichelt

[…] Schon die große Fensterscheibe der Galerie gewährt Passanten einen Blick in den zur Hauptstraße gelegenen ersten Galerieraum. Vortex II aus dem Jahr 2021 von Astrid Weichelt hat bestimmt viele Blicke von draußen auf sich gezogen, denn die schwebenden Teile der Installation bilden drinnen einen Wirbel. Die Drehbewegung der Spiralform bleibt zweideutig. Sie lässt sich zwar als gebogene, sich windende und als Ganzes bewegende Linie verstehen, jedoch kann der Richtungsimpuls sowohl nach innen wie ein Sog, aber auch nach außen wie ein Herausschleudern gesehen werden. Dass es sich bei den einzelnen Teilen um papierne Abformungen von Fundstücken einer verwaisten Baustelle handelt, wird man erst nach dem Eintritt in die Galerie gewahr, man wird förmlich in den Raum gezogen. Ein dünner Draht verbindet spiralförmig die einzelnen Abgüsse hinterlassener Materialien und Werkzeuge, deren Fundort übrigens die faszinierende von Mendelsohn erbaute Halle der ehemaligen Tuchfabrik in Luckenwalde war. Vortex I entstand genau dort vor fünf Jahren für die thematische Gruppenausstellung „Die Dinge“ der GEDOK Brandenburg. Damals wie heute entwickelte Astrid Weichelt die Präsenz der dreidimensionalen Gestaltung für den konkreten Raum. Ihre Arbeitsweise besitzt in mehrfacher Hinsicht bestimmte Grundlagen. Dazu gehört die Büttenpapier-Abformung von Fundobjekten, die uns z. B. als unbeachtete Artefakte oder Spolien umgeben. Es sind Überbleibsel der Vergangenheit. Fragmente, die sich zwar in einem örtlichen bzw. baulichen Zusammenhang befinden, materiell tatsächlich anwesend sind, jedoch oft keine Aufmerksamkeit, geschweige denn eine Hinwendung erfahren. Das Verfahren der papiernen Abformung berührt sowohl die archäologische als auch die künstlerische Praxis. Geht es in der Archäologie dabei um die Kopie, Bewahrung und spätere Wiederherstellung überlieferter, meist versehrter Formen, interessiert Astrid Weichelt der Zusammenhang von erinnerter und vergessener Kulturgeschichte, aus dem das Paradox An- und Abwesenheit entsteht. Astrid Weichelts künstlerische Intention zielt auf Memorieren durch Präsenz. […]

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