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Thomas Kumlehn
„Paragone“ von Astrid Weichelt und Kirstin Rabe

Vor fast genau einem Jahr wurde die Galerie 47 eröffnet. Die Bedingungen unter denen Kultur und Kunst öffentlich wahrgenommen werden können, haben sich seither drastisch verändert. Dadurch hat sich auch unsere Wahrnehmung auf offene Galerien verändert. Ausstellungsbesuche sind nicht mehr selbstverständlich, sind daher selten und gleichwohl kostbarer geworden. Vermutlich haben die eigendynamischen Schließ- und Öffnungszeiten von Museen und Galerien unsere Haltung zur Kunst verändert. Ist unser Rezeptionsverhalten offener, unsere Haut dünner geworden? Das wäre eine Untersuchung wert, finde ich. Auch um die Digitalisierung als untaugliche Kompensations-technologie für die Kunstbetrachtung zu bestimmen, wenn uns nicht parallel Kunstwerke physisch umgeben. Schon allein deshalb ist die Tatsache, dass die Ausstellung „Paragone“ von Astrid Weichelt und Kirstin Rabe eine Laufzeit hatte, die nicht nur auf der Website wahrgenommen werden konnte, ein Glücksfall. Mit dem Titel „Paragone“ haben die beiden Künstlerinnen die Erwartungshaltung der Gastgeber antikisierend interpretiert. Manche von Ihnen erinnern sich bestimmt an die Worte des damaligen Vorsitzenden des hiesigen Vereins, Dr. Rolf Kaiser, die er zur Eröffnung der Galerie 47 sagte: „Unser Anliegen ist es, einen anspruchsvollen, aber nicht zu ausgefallenen Kunstort zu schaffen, an dem künstlerische Dialoge sichtbar und erfahrbar werden“.

Schon die große Fensterscheibe der Galerie gewährt Passanten einen Blick in den zur Hauptstraße gelegenen ersten Galerieraum. Vortex II aus dem Jahr 2021 von Astrid Weichelt hat bestimmt viele Blicke von draußen auf sich gezogen, denn die schwebenden Teile der Installation bilden drinnen einen Wirbel. Die Drehbewegung der Spiralform bleibt zweideutig. Sie lässt sich zwar als gebogene, sich windende und als Ganzes bewegende Linie verstehen, jedoch kann der Richtungs-impuls sowohl nach innen wie ein Sog, aber auch nach außen wie ein Herausschleudern gesehen werden. Dass es sich bei den einzelnen Teilen um papierne Abformungen von Fundstücken einer verwaisten Baustelle handelt, wird man erst nach dem Eintritt in die Galerie gewahr, man wird förmlich in den Raum gezogen. Ein dünner Draht verbindet spiralförmig die einzelnen Abgüsse hinterlassener Materialien und Werkzeuge, deren Fundort übrigens die faszinierende von Mendelsohn erbaute Halle der ehemaligen Tuchfabrik in Luckenwalde war. Vortex I entstand genau dort vor fünf Jahren für die thematische Gruppenausstellung „Die Dinge“ der GEDOK Brandenburg. Damals wie heute entwickelte Astrid Weichelt die Präsenz der dreidimensionalen Gestaltung für den konkreten Raum. Ihre Arbeitsweise besitzt in mehrfacher Hinsicht bestimmte Grundlagen. Dazu gehört die Büttenpapier-Abformung von Fundobjekten, die uns z. B. als unbeachtete Artefakte oder Spolien umgeben. Es sind Überbleibsel der Vergangenheit. Fragmente, die sich zwar in einem örtlichen bzw. baulichen Zusammenhang befinden, materiell tatsächlich anwesend sind, jedoch oft keine Aufmerksamkeit, geschweige denn eine Hinwendung erfahren. Das Verfahren der papiernen Abformung berührt sowohl die archäologische als auch die künstlerische Praxis. Geht es in der Archäologie dabei um die Kopie, Bewahrung und spätere Wiederherstellung überlieferter, meist versehrter Formen, interessiert Astrid Weichelt der Zusammenhang von erinnerter und vergessener Kulturgeschichte, aus dem das Paradox An- und Abwesenheit entsteht. Astrid Weichelts künstlerische Intention zielt auf Memorieren durch Präsenz. Vergleichbar der „Archäologie als eine in der Renaissance sich zur Wissenschaft mausernden Praxis“, die „das Vergessen dem Vergessen“ entreißt, schrieb der Herausgeber von Sir Thomas Browne, Manfred Pfister.

Die Intention, Technik, Materialsprache von Astrid Weichelt ist dem hippen Up-Cycling nicht verbunden. Kunsthistorisch ist sie der Arte Povera nahe, denken Sie an „Tragedia Civile“ (1975) zu Deutsch „Die bürgerliche Tragödie“ von Jannis Kounellis, einem Environment, mit dem er Verluste (die Identität) bzw. Abwesenheiten (das Gestorbensein) thematisierte, zu sehen im Kolumba, dem Museum des Erzbistums Köln, wo ich dem Namen der Institution nach eher Reliquiare wie die Kopie des Schweißtuchs der Hl. Veronika vermutet hätte.
Erwähnen möchte ich neben dem Hinweis auf Kounellis die bis zum 6. Juni zu sehende Ausstellung „Internal Objects“ von Rachel Whiteread bei Gagosian in London. Denn auch im Werk der britischen Bildhauerin findet sich die haptische Qualität der „armen“ Dinge, die uns umgeben. Während Astrid Weichelt Dingen mittels der sogenannten „verlorenen Form“ eine papierne Haut auflegt und als Relief in der abgegebenen Farbigkeit der Dinge abnimmt, fertigte Rachel Witheread für Poltergeist (2020) und Doppelgänger (2020–2021) Skulpturen aus „armen“ Objekten – Holz und Metall – und überstrich sie weiß. Mit der Platzierung der beiden Werke in Gestalt von fragilen Sheds (Schuppen) in zwei unterschiedlichen Räumen der Londoner Galerie impliziert sie geradezu metaphysisch „a thing that’s gone and been reincarnated“, ein Ding das zerstört und zugleich wiederauferstanden ist. Doch genug der Verweise, zumal das Kolumba in Köln immer noch bis auf weiteres geschlossen ist und wir bis zum 6. Juni nicht nach London reisen werden können.

Astrid Weichelt und Kirstin Rabe, die sich für diese gemeinsame Ausstellung entschieden und damit für diese Galerieräume beworben haben, lernten sich 2016 auf dem Künstlerhof Frohnau kennen, wo sie fast zeitgleich Ateliers bezogen haben. Es lag nahe, aufeinander zuzugehen, denn beider Werkstoff ist das Papier. Kirstin Rabe stellt jedes einzelne Blatt selbst her und gießt die Pulpe, der sie vorher Farben wie Japantusche, Acrylfarbe, Pigmente in jeweils eigener Mischung und Dosierung beigemischt hat, flächig durch Siebe für den anschließenden langwierigen Trocknungsprozess. Während des Trocknens überlässt sie die aushärtende Masse sich selbst. Danach beschneidet sie in der Regel die Kanten der neu entstandenen Blätter, diese bilden das Material für unterschiedliche Gestaltungsformen. Zitat: „Die Kanten interessieren mich insbesondere wegen der Textur, denn die gegossenen Blätter sind jedes für sich unterschiedlich geformt.“ Für die Werkreihe Waldgeschichten verwendet sie die Horizontal- und die Spiralform, für Strata zu Deutsch „Schichten“, staffelt sie Papiere horizontal oder vertikal. Abgesehen von der subtilen singulären Farbigkeit jedes Blattes innerhalb dieser „atmenden“ Schichtungen, verblüfft die fast gegensätzlich zu nennende Bildwirkung bei den horizontalen oder spiralig bis vertikalen Anordnungen. Bleibt sie für den Betrachter bei den horizontalen und spiraligen Formen vor allem auf den sichtbaren „Saum“ der Papiere animiert, entsteht hingegen bei den horizontalen Formen ein sogartiges Hineinziehen des Blicks.

Die der jüngsten Werkreihe zugehörigen Schnürungen entstehen aus übriggebliebenen – in schmale Streifen geschnittenen – sogenannten Mittelstücken. Hier ist die Haptik den reliefhaften Oberflächen der „superficies“ nahe. Letztere gelangten übrigens erst während der Laufzeit in die hiesige Ausstellung, weil Horizonte 3 für die aktuelle Ausstellung zum Brandenburgischen Kunstpreis in Neuhardenberg nominiert worden ist und dort bis zum 22. August gezeigt wird. Nicht zu vergessen, die Werkreihe Alpi Apuane, eine Weiterentwicklung der Bildwirkung ihrer zarten Aquarellreihe Da Casoli di Greppolungo. Während Casoli di Greppolungo eine hügelige Landschaft panoramaartig in zarten geradezu asketischen weißgrauen Abstufungen zeigt, wirkt die Alpi Apuane-Reihe aufgrund der mäandernden Ablagerungen schwarzer und weißer Tusche konturierter, die in der Collagetechnik gestaffelten Blätter öffnen mehr die Bildtiefe als dass sie das beim Betrachten das Gefühl einer sich links und rechts schier ausdehnenden Sichtbreite evozieren. Die Aufzählung wäre für Sie, verehrte Gäste, nur dann ermüdend, wenn Sie hier nicht den vergleichenden Blick auf das jeweilige Werk hätten. Grundsätzlich überraschend ist gerade das scheinbar Unvereinbare aus strenger Form und Überschaubarkeit im Format sowie der berückende Zauber der singulären Lichtwirkung und Materialität in jedem der hier zu betrachtenden Werke von Kirstin Rabe. Nehmen wir nur die Horizonte, die sich wie Vortex II von Astrid Weichelt im vorderen Galerieraum befinden: „Auf der bewegten Oberfläche der Raum-Landschaft führen die dunkler nuancierten Farbtöne auf dem Grund des Bildes den Blick in die Tiefe, um sich, schrittweise heller werdend, gleichzeitig nach oben hin auszubreiten. Aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, scheint die Struktur der hinter- und übereinander gestaffelten, horizontal angelegten Papierebenen Wandlungen zu vollziehen. Wie Krustationen von Eis erheben sich die gebrochenen, wellenförmigen Linien, ohne dabei jemals in Erstarrung zu verharren. Die Vielschichtigkeit des weichen, anpassungsfähigen Materials lässt sie in konstanter Bewegung erscheinen. Die Künstlerin hat eine wandelbare Landschaft geschaffen, deren Anziehungskraft der Betrachter sofort zu spüren vermag“, notierte der Kunsthistoriker Auguste Desnoyers dazu.

Anders als anlässlich einer Vernissage, geht es heute am letzten Ausstellungstag nicht um eine Einführung. Ich konnte davon ausgehen, dass Sie, verehrte Gastgeber und Gäste, inzwischen zumindest theoretisch mehrfach Gelegenheit hatten, die Ausstellung zu besuchen. Meine Aufgabe betrachtete ich daher darin, wenige der 28 ausgestellten Werke zu reflektieren. Im Entfrachten der Fülle das Allgemeine im Besonderen aufzuzeigen, das war mein Wunsch. Lassen Sie mich noch kurz ein post scriptum hinzufügen, das sich auf den Ausstellungstitel bezieht. Der Diskurs, der „Paragone“ voranging, läuft hier ins Leere. Die Ausstellung vermittelt mir stillschweigend, dass der Anspruch einer Vorrangstellung von Malerei oder Bildhauerei längst obsolet ist. Der Titel der kongenialen Doppelausstellung von Astrid Weichelt und Kirstin Rabe hätte zumindest ein Fragezeichen verdient.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

© Thomas Kumlehn

gehalten als Rede am 30.05.2021 zur Finissage der Ausstellung „Paragone“ von Astrid Weichelt und Kirstin Rabe in der Galerie 47, Birkenwerder